Flug zum Futter

Es dauert nicht mehr lange, und die ersten Zugvögel treffen wieder ein und künden: Der Frühling ist da. Doch so manches, was wir noch in der Schule über den Zug der Vögel gelernt haben, stellt sich im Licht neuer Forschungen anders da.

Erstaunlich sind die Leistungen der kleinen Federbälle allemal. Etwa 50 Milliarden Vögel gehen jedes Jahr auf Wanderschaft. Praktisch in jedem Monat des Jahres ist irgendwo auf dem Planeten Zugzeit, und die Routen überdecken fast alle Gebiete von Nord- und Südhalbkugel. Viele europäische und zentralasiatische Arten überwintern in Afrika, andere Asiaten zieht es nach Indien oder Ceylon. Vögel des Fernen Osten überwintern gern in Malaysia oder  erreichen sogar Australien oder Madagaskar. Und die nordamerikanischen Vögel fliegen meist entlang Ost- oder Westküste in den Süden oder folgen dem Lauf des Mississippi.

Doch warum ziehen manche unserer Vogelarten überhaupt gen Süden? Die einfache Antwort „Weil es hier zu kalt ist im Winter?“ trifft die Sache nicht wirklich. Denn zahlreiche Arten überwintern hier erfolgreich. Eher kommt man der richtigen Antwort auf die Spur, wenn man sich das Verhalten der Buchfinken und Amseln ansieht. Hier ziehen vor allem die Weibchen in südlichere Gefilde, die Männchen bleiben hier. (Deshalb trägt der Buchfink auch den wissenschaftlichen Artnamen Fringilla coelebs; das Wort coelebs ist mit Zölibat, also Ehelosigkeit, verwandt)

Der Grund dafür hat im Wesentlichen mit der Nahrung zu tun: Sie brauchen vor allem Energie, und die können sie aus Beeren und Körnerfutter in genügendem Maße gewinnen. So sind sie rechtzeitig zur Stelle, wenn es nach Ankunft der Weibchen um das Verteilen der Brutreviere geht. Die Weibchen aber sollen dann Eier legen, und dafür brauchen sie vor allem eiweißreiches Futter, etwa Insekten. Und die können hierzulande nur wenige spezialisierte Vogelarten in ihren Verstecken finden. Manche Vögel freilich können, wie etwa die kleinen Meisen, mit den relativ geringen Proteinmengen in der verfügbaren Nahrung auskommen.

Ein zweiter verbreiteter Irrtum: Die europäischen Zugvögel seien bei uns heimisch und würden nur vorübergehend warme Gebiete aufsuchen. Inzwischen haben Forschungen ergeben, dass es genau umgekehrt ist. Die meisten europäischen Vögel haben mehr verwandte Arten in tropischen oder subtropischen Gebieten. Wenn sie gen Norden fliegen, folgen sie viel eher der allgemeinen Tendenz in der Natur, möglichst jede verfügbare Nahrungsressource auszunutzen.

Warum bleiben sie dann nicht einfach in den warmen Zonen? Die Tropen haben im Vergleich zu unseren Sommern durchaus auch Nachteile als Brutgebiete: Jeder Tag hat sie hier 12 Stunden Tageslicht. In unseren Sommertagen dagegen können sie bis zu 20 Stunden, je nach Breitengrad, mit Reviergesang und Nahrungssuche verbringen. Zudem ist bei uns die Zahl an Insekten (nicht die Artenzahl) in dieser Zeit viel höher. Sie sind auch besser bekömmlich: In den Tropen nehmen viele Arten Gifte aus Pflanzen auf, um ungenießbar zu werden. Die Folge: In unseren Regionen wachsen die Jungvögel weit rascher heran als in den Tropen, auch sind die Gelege meist deutlich größer.

Wasserfall

Wasser und sonnige Wiesen: Hier summen im Sommer unzählige Insekten und bilden eine gute Nahrungsgrundlage für Vögel

Außerdem gibt es weniger Konkurrenz und weniger Feinde für das Gelege (wie etwa Baumschlangen oder Nester plündernde Säuger). Auch die Tatsache, dass alle Vögel ungefähr gleichzeitig brüten, verringert den Feinddruck aufs einzelne Gelege.

Daher lohnt sich für viele Arten der anstrengende Flug in die nahrungsreichen Brutreviere im Norden. Das ist eben der große Vorteil, den die Vögel gegenüber den Säugern haben: Zwar ist der Flug anstrengend, aber dafür können sie auch vergleichsweise einfach die jeweils besten Regionen aufsuchen.

Rekordhalter ist nach derzeitigem Kenntnisstand übrigens die Küstenseeschwalbe: Sie legt zwischen den Brutgebieten in den nördlichen Polarregionen und den Überwinterungsregionen nahe der antarktische jährlich rund 30 000 Kilometer zurück. Einzelne Exemplare, das haben Überwachungen von mit Sendern ausgestatteten Vögeln per Satellit ergeben, schaffen sogar 80 000 Kilometer pro Jahr  – das entspricht einer Flugstrecke zweimal rund um den Äquator!