Chinesisches Weltwunder

Reiche Ernten dank guter Bewässerung durch den "kostbaren Flaschenhals"

Die Leistungen, die die Chinesen schon vor zwei Jahrtausenden im Wasserbau vollbrachten, sind erstaunlich. Sie gruben nicht nur den berühmten Kaiserkanal, die größte je vom Menschen geschaffene Wasserstraße, der sich auf einer Länge von 1800 Kilometer quer durch China zieht. Zu den erstaunlichen Projekten zählt auch ein im Westen weniger bekanntes Bauwerk nahe Chengdu, der Hauptstadt der chinesischen Provinz Sichuan. Man kann es getrost als eines der Weltwunder des Altertums bezeichnen. Im Jahr 2000 ist es in die UNESCO-Welterbeliste aufgenommen worden. Ich meine das Bewässerungsprojekt von Dujiangyan am Min-Fluss, das ich im vorigen September besucht habe.

Vor etwa 2200 Jahren, um 250 v. Chr., war ein Mann namens Li Bing zum Statthalter der Provinz Shu – dem heutigen Sichuan – ernannt worden. Damals war der Min, der größte und wasserreichste Nebenfluss des Jangtsekiang, ein ausgesprochen wilder Fluss. Er fällt von seinem Quellgebiet auf einer Strecke von etwa 600 Kilometern um gut 3600 Meter ab, hat also ein Gefälle von fast 6 Metern pro Kilometer. Zudem lassen ihn Schmelzwasser regelmäßig kräftig anschwellen und überschwemmten Teile der großen Ebene von Chengdu, was zahlreiche Todesopfer forderte und zudem die Ernte vernichtete. Im Sommer dagegen trocknet der Fluss weitgehend aus, so dass nicht genug Wasser für die Reisfelder zur Verfügung stand. Die Wasserführung wechselt im Laufe eines Jahres nicht selten um den Faktor 10.

Li Bing beschloss, den Fluss zu zähmen. Eine mutige Entscheidung, denn damals waren nicht nur die technischen Möglichkeiten begrenzt, man hatte auch kaum Erfahrung mit solch riesigen Projekten. Und Fehlschläge kosteten in der Regel den Kopf. Doch Li Bing brachte diesen Mut auf und konnte auch seinen Herrscher überzeugen, so dass das nötige Kapital und damit die nötigen Arbeitskräfte zur Verfügung standen.

Anfangs überlegte man wohl, einen großen Staudamm zu bauen. Der hätte die damaligen Möglichkeiten aber wohl doch überfordert, nicht zuletzt wegen der gewaltigen Schlammfracht des Flusses. Zudem war Li Bing gehalten, die freie Schiffbarkeit auf dem Min sicher zu stellen: Aus militärischen Gründen durfte kein Staudamm die Schiffe aufhalten. So entwarf er einen genialen Plan, den wir heute noch bewundern. Er schuf, unterstützt von seinem Sohn, die gigantische Bewässerungsanlage, die den Min zähmte, die Ebene von Sichuan bewässerte, Überschwemmungen verhinderte und gleichzeitig die Schiffbarkeit des Flusses verbesserte. Sie ist noch heute in Betrieb.

Dujiangyan liegt dort, wo der Min aus dem Gebirge in die Sichuan-Ebene eintritt. Die Anlage besteht aus drei Teilen, die zusammenwirken und blumige chinesische Bezeichnungen tragen: das „Fischmaul“, das Flugsandwehr und der „kostbare Flaschenhals“. Das Fischmaul ist ein flacher Scheidedamm mitten im Strom. Er teilt den Fluss in einen inneren und einen äußeren Teil. Der äußere Teil ist das ursprüngliche Min-Bett, aus dem inneren Teil dient zur Ableitung des Bewässerungswassers. Der Damm teilt die Wassermengen auf, und zwar auf höchst geniale Weise: Bei niedriger Wasserführung fließen etwa 60 Prozent in den inneren Teil und nur 40 Prozent bleiben im äußeren Teil. Bei Hochwasser dagegen ist die Aufteilung genau umgekehrt.

Das "Fischmaul". Hier beginnt der Scheidedamm, der den Min aufteilt

Das Fischmaul sorgt dafür, das vor allem das klarere Oberflächenwasser in die Bewässerungskanäle fließt, während das sedimentreiche Tiefenwasser durch das Ursprungsbett abläuft. Kommen Hochwässer, spülen sie dort abgelagertes Geröll und den Schlamm davon. Dann führt auch der innere Teil mehr Wasser, aber das ist kein Problem, weil das überschüssige Wasser durch das 200 Meter breite Flugsandwehr in den äußeren Strom abfließt und dabei auch den Schlamm aus dem inneren Teil mitnimmt.

Vor dem "kostbaren Flaschenhals", dem im Hintergrund abzweigenden Kanal

Der „kostbare Flaschenhals“ schließlich ist ein Kanal, der das Bewässerungswasser aus dem inneren Teil abzweigt und damit eine Fülle kleiner Kanäle speist, die es in der Ebene von Chengdu verteilen. Sie wurde dadurch die landwirtschaftlich produktivster Region Chinas, zudem mussten die Bewohner keine Überschwemmungen mehr fürchten.

Die zum Verwirklichen dieses Projekts nötige Arbeitsleistung freilich war immens. Es sollen mehrere 10 000 Arbeiter daran beschäftigt gewesen sein. Der aus steingefüllten Bambuskörben und Holzpfählen konstruierte Scheidedamm war nach vier Jahren fertig. Weit mehr Zeit brauchte der „kostbare Flaschenhals“. Dieser Kanal musste nämlich durch eine fast 20 Meter mächtige Felsbarriere geschlagen werden. In jener Zeit war das Schießpulver auch in China noch unbekannt. Also entfachte man auf dem nackten Gestein große Feuer aus Heu und goss dann Wasser auf den erhitzten Fels, so dass er durch die jähe Abkühlung rissig wurde und nun mit Hacken und Schaufeln abzutragen war. Es dauerte acht Jahre, bis auf diese Weise die Kanalöffnung durch den rund 20 Meter hohen Fels geschlagen war – sie ist immerhin fast 30 Meter breit und 36 Meter lang.

Die Anlan-Brücke spannt sich zum Scheidedamm hinüber. Wer sie benutzt, sollte einigermaßen schwindelfrei sein, weil sie gerne hin und her schwingt.

Ich habe trotz trüben Wetters fast einen ganzen Tag damit verbracht, die Bewässerungsanlage und die in der Nähe errichteten Tempel zu besichtigen. Nicht nur, weil sie ein technisches Weltwunder darstellt, sondern auch, weil sie – anders etwa als die Pyramiden von Gizeh – zum Wohle aller, nicht nur einiger weniger Menschen errichtet wurde.